7,2 cm. Den E-Mails in meinem Spam-Ordner zufolge ist das zu klein. Ich sehe das ja etwas anders.

Es ist schließlich mehr als meine Handbreite. Wie soll man das überhaupt halten?

Vor jeder Partie von Terraforming Mars gibt es diesen Moment: Das Spielbrett liegt in der Mitte, die Materialien sind verteilt und wir starren abwechselnd den Kartenstapel und uns gegenseitig an.  Was für NASA-Technologie ist nötig, um Entropie in dieses Monstrum zu bringen?

Mit vereinten Kräften und mehr involvierten Händen als anständig schaffen wir es meist einigermaßen.

Und nach diesem kleinen kooperativen Minispiel können wir endlich das im Vergleich doch recht machbar wirkende Projekt starten: Der Mars wird bewohnbar gemacht.

Höher als Olympus Mons: Der unmischbare Stapel des Verderbens.

Kapitalismus saves the day

Die Grundprämisse von Terraforming Mars ist gleichzeitig wissenschaftlich ernsthaft, lustig überspitzt und manchmal traurig realistisch: Das 23. Jahrhundert hat gerade angefangen. Röhren-Hosen sind wieder modern, BER wird endgültig aufgegeben und die Rolling Stones gehen auf ihre definitiv letzte Tour.

Nebenbei hat sich auch gezeigt: Der Klimawandel war kein gezieltes Gerücht, um die westliche Wirtschaft zu schwächen, sondern fand tatsächlich statt. Und da es auf der Erde langsam wirklich zu heiß und zu voll wird, will die Weltregierung möglichst schnell den Mars bewohnbar machen.

Ich bin zugegebenermaßen einigermaßen erstaunt über die sehr optimistische Einschätzung unserer Zukunft. Weniger überraschend ist, dass sich trotz Weltregierung nichts an den politischen Abläufen geändert zu haben scheint.

Denn die Regierung nimmt die Sache nicht selbst in die Hand. Das wäre viel zu anstrengend und wie soll man das auch den Wählerinnen verkaufen?

Deshalb werden einfach Gelder für Megakonzerne bereitgestellt, die sich um die Besiedlung und Verwandlung des roten Planeten kümmern. Alles zum Wohl der Menschheit natürlich.

What could possibly go wrong?

Jede Spielerin übernimmt eines dieser Unternehmen und beginnt damit, den Mars nach irdischem Vorbild zu verwandeln. Das heißt: rücksichtslos, korrupt und grund-kapitalistisch.

Kurz gesagt: Wir schießen alles auf den Mars, was uns in die Finger kommt und irgendwie sinnvoll erscheint: Touristen, Asteroiden, Saatgut, Trockeneis, Haie. Man kann ja nie wissen.

Öko, Industrie, Wissenschaft oder Explosionen: Welcher Konzern darf es sein?

Jeder Konzern hat eigene Vorstellungen davon, wie der Mars aussehen soll. Als Bergbaukonzern, kann man gut mit den Ressourcen des Marses umgehen. Als Investment Bank muss man sich keine Sorgen vor großen finanziellen Projekten machen. Und als Filmunternehmen kennt man sich besonders mit Explosionen und einschlagenden Meteoriten aus. Michael Bay wäre stolz auf uns.

Und damit sind wir auch schon beim Kern des Spiels. Die Weltregierung geht, wie es sich für eine Behörde gehört, wunderbar bürokratisch vor. In irgendeinem Komittee wurden mithilfe vieler Powerpoint-Präsentationen und verzweifelter Wissenschaftler  drei Parameter festgelegt, nach denen die Höhe des Fundings bestimmt wird: Sauerstoffgehalt, Temperatur und Wasserflächen. Wer die Parameter erhöht, bekommt einen höheren Terraform-Wert – mehr Geld und am Ende des Spiels  Siegpunkte.

Den Ministerinnen ist es egal, wie man die Werte erhöht. Ob man sorgfältig den Planeten begrünt oder in Stahl- und Kohlekraftwerken nebenbei etwas CO2 bindet – wen kümmern schon solche Details, wenn es doch nur darum geht, dass die Bilanz gut aussieht? Beides hat  den gleichen kurzfristigen Effekt und bringt deshalb auch die gleichen Gelder.

Und das ist noch eines der harmloseren Beispiele. Denn die Karten, mit denen man das Terraforming hauptsächlich betreibt, reichen von Gras pflanzen bis hin zum Test von Nuklearwaffen und Bestechung von Regierungsmitgliedern.

Und nur als kleiner Tipp: Wer das Spiel mit ökologischem Bewusstsein und reinem Gewissen spielt, verliert aller Wahrscheinlichkeit nach.

Schießübungen mal mit richtig großen Kalibern.

Von 0 auf 100 in fünf Generationen

Aber ich sehe es ja ein: Genug mit der Politik! Wir wollen doch nur spielen.

Also gut, kehren wir zum Spielfeld zurück und blicken wir auf das Spielbrett, das (passend zum Thema) trocken, leer und in blassem rot ein wenig aussieht, als wäre es einem Astronomie-Buch aus den 90ern entsprungen. Über die Marsoberfläche spannt sich ein Hexagon-Netz, daneben kann man die aktuellen Terraformwerte ablesen: Je eine Leiste für Sauerstoffgehalt und Temperatur, ein Stapel mit Plättchen für die Wasserflächen. Wenn die Leisten voll und die Plättchen aufgebraucht sind, ist das Terraforming fertig, das Spiel endet und auf der eurobligatorischen Siegpunkteleiste um das Spielbrett herum kann man die Gewinnerin ablesen.

Dass das Spielbrett nicht gerade ein Meisterwerk des Designs ist, macht aber fast nichts aus. Denn der Großteil des Spiels steckt in den 7,2 Zentimetern an Karten – die aber leider auch nicht viel schöner sind.

Die Zukunft gehört den Megacredits, den Stock-Fotos und den fliegenden Fidget-Spinnern. Anmerkung: Karten teilweise aus der Erweiterung “Venus Next”.

Das Spiel ist in Generationen unterteilt.

Jede Generation beginnt mit Forschung: Die Spielerinnen bekommen je 4 Karten von denen sie beliebig viele behalten dürfen – zum Preis von 3 teuren Mega-Credits pro Karte.

Dann startet die Aktionsphase, die so lange geht, bis alle Spielerinnen gepasst haben. Danach wird noch produziert und dann startet die nächste Generation.

Wenn eine Spielerin an der Reihe ist, darf sie ein oder zwei Aktionen durchführen. Oder passen, dann ist sie aber für den Rest der Generation raus.

Die einfachsten Aktionen sind die Standartprojekte. Zum Beispiel Wasserflächen anlegen oder Städte gründen. Sie sind teuer und haben nur geringe Auswirkungen. Man greift normalerweise nur dann auf sie zurück, wenn man sonst nichts zu tun hat. Oder, wenn man die Solovariante spielt.

Viel besser ist es normalerweise eine Karte von der Hand auszuspielen. Für die Karten zahlt man meistens mit Geld, manchmal mit Ressourcen, bei einigen müssen vorher bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Die Karten erhöhen die Terraformwerte, geben Siegpunkte, verbessern die eigene Produktion und geben einem neue Handlungsoptionen.

So baut man sich langsam eine Engine auf: Die Karten interagieren miteinander und führen zu einem exponentiellen Anstieg an Geld, Ressourcen und Möglichkeiten.

Diese Engines sind der Grund, warum das Spiel solchen Spaß macht. Der Mars bietet viele Wege zum Erfolg: Die Engines können auf Rohstoffen, Erfindungen oder zusätzlichen Aktionen basieren. Die ersten paar Generationen geht es immer sehr langsam. Zwar startet jede Spielerin mit ordentlich Startguthaben, das ist aber schnell aufgebraucht und das Einkommen zu Beginn ist ziemlich mickrig.

Aber nach ein paar Generationen greifen die Zahnräder ineinander, mit einer so beeindruckenden Geschwindigkeit, dass man sich selbst wie in einer Rakte auf dem Weg ins Weltall fühlt.

Und auch das Spielende rückt dann meistens schnell näher, denn wenn alle 3 Zielwerte fürs Terraforming erreicht wurden, wird nur noch diese Generation zu Ende gespielt.

Danach werden die Siegpunkte gezählt und wer die meisten hat, wird zur Herrscherin des Marses gekrönt. Wie in der Wirklichkeit eben.

Wie es sich für den ordentlichen Siegpunkte-Salat gehört, ist der tatsächliche Punktestand während der Partie nicht immer ersichtlich, sondern nur der langweilige Blattsalat. Toppings und Dressing kommen erst am Ende dazu.

Der Blattsalat, das ist in diesem Fall der Terraform-Wert. Die Toppings sind Punkte, die man durch Karten gemacht hat. Und das Dressing machen schließlich die Awards und Meilensteine aus, die man nebenher finanzieren und gewinnen kann – wenn man sich denn die Zeit dafür nimmt und schneller als die Konkurrenz ist.

Polare Eiskappen abschmelzen? Woher kommt mir dieses Manöver nur bekannt vor?

Solo mit Hindernissen

Man spielt bei Terraforming Mars zu weiten Teilen vor sich selbst hin. Auf der Marsoberfläche, also dem Spielbrett, gibt es zwar theoretisch Kontakt, aber man kommt sich nur äußerst selten in die Quere. Interaktion entsteht hauptsächlich dadurch, dass jede zehnte Karte eine aggressive Haupt- oder Nebenwirkung hat.

Erinnerst du dich an die Meteoriten und Asteoriten, die ich eingangs erwähnt habe? Wir lenken sie natürlich nur auf den Mars, um die Terraformwerte zu erhöhen! Und wenn sie im Wald einschlagen, den unsere Konkurrentinnen mühevoll angelegt haben, dann war das sicher keine Absicht und uns kann niemand einen Vorwurf daraus machen.

Viele kritisieren diese aggressiven Karten, aber ich mag sie. Sie fügen sich gut ins halb-satirische Thema ein und machen das Timing von Aktionen wichtiger.

Und dann gibt es natürlich noch das Drafting in der Forschungsphase. Drafting bedeutet: Jede Spielerin bekommt Karten, du suchst dir eine davon aus und gibst den Rest an die Spielerin neben dir weiter. Gleichzeitig bekommst du von rechts einen Stapel. Auch davon suchst du wieder eine Karte aus, gibst den Rest deiner Nebensitzerin und so weiter. Dadurch hast du mehr Kontrolle, kannst dir bessere Karten holen.

Das Drafting bei Terraforming Mars ist aber besonders. Oder besser: besonders fies. Normalerweise, zum Beispiel bei 7 Wonders, stellt einen Drafting ständig vor die schwere Entscheidung: Nehme ich die Karte, die super für mich ist, oder lieber die Karte, die mir nichts nützt,  aber meiner Nebensitzerin ziemlich viele Punkte geben würde.

Bei Terraforming wird zuerst gedraftet – und danach muss man die Karten, die man wirklich will, auch noch kaufen. Und zwar nicht gerade billig. In den meisten Generationen bedeutet das: Ich kaufe sowieso nur zwei von vier möglichen Karten. Dadurch wird es natürlich viel verlockender, einen sogenannten Hate-Draft durchzuführen, also eine Karte zu nehmen, die einem selbst nicht nützt – aber perfekt zur Engine einer anderen Spielerin passen würde.

Dadurch gibt das Spiel einem Runde für Runde wieder die Möglichkeit mit einem süffisanten Grinsen Karten, die man sich natürlich selbst nicht gekauft hat, auf den Ablagestapel zu werfen und den geschockten Gesichtsausdruck der Gegnerinnen zu genießen.

Wer lieber ohne solche Gemeinheiten spielt, kann das Drafting auch weglassen und zufällig Karten ziehen. Dann ist man allerdings sehr vom Kartenglück abhängig und raubt sich viele strategische Möglichkeiten. Spätestens nach der dritten Runden ohne Karte zum Städtebau ärgert man sich dann über die sorgfältig aufgebaute Engine, die einem für jede neue Stadt extra Geld, Punkte und vor allem Hündchen gibt. Ja, eine solche Engine ist möglich – und wahrscheinlich alleine schon Grund genug, sich das Spiel zu kaufen.

Und noch ärgerlicher ist es, wenn die anderen immer genau die richtigen Karten ziehen, ihren Terraform-Wert nach oben schießen lassen wie eine SpaceX Rakete auf dem Weg zum echten Mars und es gleichzeitig auch noch schaffen in ihren Wäldern Bären auszusetzen, die deine wenigen Hündchen in ihren Hütten erzittern lassen.

Zum Glück hat das Hündchen Plot-Armor und darf nicht von Bären gefressen werden.

Ein paar Planeten sind noch übrig

Mit Near Future SciFi kann man mich immer locken, Terraforming Mars, zählt aber auch aus anderen Gründen zu meinen Favoriten. Den kleinen Engines dabei zuzusehen, wie sie ihre Stützräder abwerfen und plötzlich anfangen Rennrad zu fahren, ist sehr befriedigend. Die kleinen Wettläufe um die Awards und Meilensteine sind meistens knapp und spannend. Die kleinen Gemeinheiten machen mir ziemlich Spaß (was auch immer das über mich aussagt). Und man merkt dem Spiel und seinen vielen Details an, mit wieviel Herzblut der Entwickler Jacob Frixelius versucht hat, die Wissenschaft um den Mars und seine Besiedlung ins Spiel einfließen zu lassen.

Gleichzeitig wünsche ich mir aber auch immer wieder, dass das Spiel noch etwas konsequenter wäre. Mit einem einheitlichen Stil, sowohl in den Grafiken, als auch im Text.

Und, das muss ich zum Abschluss leider noch loswerden, ich wünsche mir, dass ich mich bei den nächsten Erweiterungen nicht wieder so ärgern muss, wie bei den letzten beiden. Wenn ich 50 Euro für zwei Erweiterungen ausgebe, die genauso gut auch eine sein könnten, dann wäre es toll, wenn die Aufmachung zumindest den Anschein machen würde, als hätte sich jemand dafür Mühe gegeben.

Ungelogen, ich habe Venus Next über ein halbes Jahr nicht gespielt, weil ich mich beim Öffnen der Schachtel so über das hässliche, blasse und lieblose Innere der Schachtel geärgert habe.

Entgegen meiner Erwartungen musste ich dann aber feststellen, dass Venus Next zwar nicht innovativ, aber ziemlich gut ist.